Matthias Geitel

 

Pompeji - Herkulaneum

 

1 Wanderung, 1 Projektion, 1 Zeichnung
2015


Nach den Wanderungen von Olevano, Cervara und Cerveteri verlangte die "Grand Tour" einen "Linienimport" aus dem Raum Neapel. Besonders geeignet für mein dokumentarisches Studium des Urbanen erschien mir der stets gefährdete Siedlungsraum zwischen den beiden im Jahre 79 durch den Vesuvausbruch vernichteten Stätten Pompeji und Herkulaneum. Diesmal gestaltete ich bereits vor der Wanderung die zu zeichnende Linie, indem ich im Rahmen der topografischen Möglichkeiten einen Weg entwarf, der als grafisches Ereignis eine bestimmte Aussagekraft hatte. Mit Hilfe von google street view überprüfte ich die tatsächliche Begehbarkeit der Route so gut es ging. Geplant war ein Marsch vom Bahnhof Pompei durch die moderne Stadt und das Grabungsgelände auf den Vesuv zu, am Fuße des Berges mäandernd nach Westen, um am Bahnhof Ercolano zu enden; ein Weg, der mich durch moderne Ortschaften, antikes Terrain und illegal besiedeltes Gelände führen sollte. Die gezeichnete Linie bildet diesen geplanten Weg ab. Die Umstände vor Ort führten allerdings an mehreren Punkten zu Abweichungen vom ursprünglichen Plan, da Tore zu Privatgrund mir den Weg versperrten oder ich mich schlichtweg verlief.

 

Pompeji - Herkulaneum (Buchseite aus "TOUR")

„Mann, was wäre Rock ’n’ Roll ohne Rückkopplungen!“(1)
David Gilmour

Vielleicht wollte ich nur das Amphitheater ganz für mich alleine haben, das Pink Floyd 1972 mit „Echoes“ so grandios bespielt hatten. Ein Konzert ausschließlich für Filmkameras, ohne Publikum. Erkaufte Leere an diesem Ort, der einst für die Massen bestimmt war und es im 20. Jahrhundert wieder geworden ist. Im Film sieht man die vier jungen Musiker auf improvisierter Bühne agieren, einiges an Technik, Kunstlicht für die Nacht. Und dann ist da noch dieser Sonnenschirm(2) in der Arena, der Schatten spendet für niemanden und nichts. Ein blauer Pinselstrich, der die Farbe des Vulkans im Hintergrund aufzugreifen scheint.(3)
Punkt 8:30 Uhr betrat ich das archäologische Gelände am weniger frequentierten Osteingang. Ein junges Paar vor mir, das ich schnell überholte, und schon fühlte ich mich als Gehetzter, der doch an und für sich Ruhe in Einsamkeit suchte. Vogel-gezwitscher(4) war zu hören. Mir gelang wirklich das eigentlich Unmögliche: Meinen geplanten Parcours ablaufend, traf ich erst in der Via del Foro auf andere Besucher, da war ich dem Hauptausgang schon sehr nahe.
Später, draußen im normalen Leben, musste ich mit Entsetzen feststellen, dass ich nach dem Fotografieren des dunklen Eingangsbereichs vergessen hatte, die Lichtempfindlichkeit der Kamera wieder zurückzusetzen. Körnige Bildauflösung war die Folge, als handele es sich um digitalisierte Diapositive aus längst vergessener analoger Zeit.
Vom Bahnhof Pompeji zum Bahnhof Herkulaneum, mäandernd etwa ein Viertel des großen Kreises um den Vulkan ablaufend. Weil ich Google nicht vertraute, musste ich meine handgemachte Karte zweimal korrigieren, also an verschlossenen privaten Grundstücken kehrtmachen. Ich sah schwarze Tagelöhner an einer Kreuzung auf Arbeitgeber warten. Ich stieß auf einen Hundekadaver am Straßenrand. Und be-gegnete einem Mann, der mir riet, meine Kamera nicht so offen zu zeigen. Er meinte es gut mit mir. Zwei Stunden später konnte ich in die Bahn einsteigen, ich war unbehelligt geblieben. Zusammen mit vielen Tagestouristen ging es zurück nach Neapel.

1 David Gilmour (*1946), Gitarrist, Sänger und Komponist von Pink Floyd; Zitat aus dem Film „Pink Floyd: Live at Pompeii“ von 1972.
2 Regie beim Film führte Adrian Maben. Den blauen Sonnenschirm sieht man nur zu Beginn und am Ende des Films, er ist ein rätselhaftes, aber vermutlich nur vergessenes Requisit.
3 Ferdinand von Gregorovius: „Wo man auch sein mag zu schöner Frühlings- oder Sommerzeit, man wird einen solchen Malerschirm wie einen Pilz irgendwo auftauchen sehen.“ - in: „Wanderjahre in Italien“, Kapitel „Idyllen vom lateinischen Ufer“, 1856/1870.
4 „Echoes“ beginnt mit den Zeilen: „Overhead, the albatross / Hangs motionless upon the air / And deep beneath the rolling waves / In labyrinths of coral caves / The echo of a distant time / Comes willowing across the sand / And everything is green and submarine ...“.