Matthias Geitel

 

Aix-en-Provence - Sainte-Victoire

 

1 Wanderung, 1 Projektion, 1 Zeichnung
2016


Die Landschaft um Aix-en-Provence ist von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der klassischen modernen Malerei. Hier lebte Paul Cézanne. Eines seiner wiederkehrenden Motive blieb zeitlebens der Berg Sainte-Victoire östlich von Aix.

Cézanne war zu Fuß unterwegs, um die Orte zu erreichen, an denen er seine Staffelei aufstellte. Mit "Le paysages de Cézanne" gibt es heute eine ausgeschilderte Besichtigungsroute für den fahrenden Touristen, die von Aix nach Le Tholonet führt und wichtige Aufenthaltsorte des Malers berührt.

Im Focus meiner Wanderung sollte das moderne Aix inkl. seiner Randbesiedelung stehen - und natürlich auch Cézannes Berg. Entlang einer am Computer konstruierten Linie ging ich wie Cézanne zu Fuß durch diese Landschaft. Beginnend am väterlichen Palais Jas de Bouffan durchquerte ich die Stadt und folgte der Straße über Le Tholonet weiter bis zum Fuß des Kalksteinmassivs. Die Fotodokumentation vermittelt einen Eindruck der heutigen urbanen und ländlichen Situation. So, wie sich die Straße windet, gibt die Landschaft immer wieder einen Blick auf die Sainte-Victoire frei.

Der Wegführung für die Wanderung liegt eine geplante Doppelbedeutung zugrunde. Sie ist eine Linie auf der Landkarte, die Straßen, Waldwege und auch Pfade durch unwegsames Gelände abbildet, sie ähnelt aber gleichzeitig der Silhouette des Berges Sainte-Victoire. Die in die Vertikale gekippte topografische Linie skizziert eine Ansicht der Landschaft, durch die die Wanderung führte.

Cezanne_Edinburgh        

Paul Cézanne: Montagne Sainte-Victoire (1890/95), Scottish National Gallery in Edinburgh

   
         

 

Aix-en-Provence - Sainte-Victoire (Buchseite aus "TOUR")

„Welch ein schönes Motiv.“(1)
Paul Cézanne

Im sechshundertseitigen Cézanne-Katalog, der seit Jahren auf meinem Ateliertisch liegt, findet sich das frühe Stillleben „Schädel und Kerzenhalter“ von 1866, an dem man schon erkennen kann, wohin die Reise geht. Im gleichen Jahr bewarb Cézanne sich erstmals um die Teilnahme am Pariser Salon, wurde aber von der Jury abgelehnt. Auch in der Folgezeit änderte sich daran nichts.
Cézanne Verehrung entgegenbringen. Das könnte bedeuten, die Landschaft, in der er arbeitete, wertzuschätzen, sie zu erhalten.(2) Für den Reisenden heißt es in erster Linie, die Landschaft zu erkunden, am besten zu Fuß, so, wie der Künstler selbst auf dem Weg zum Motiv unterwegs war. Dient das Gehen doch nicht nur dem Ortswechsel, es bedingt auch ein langsames und aufmerksames Sehen dessen, was den Maler umgab: Motive, Strukturen, Farben, Nuancen, Licht.
Verbaute Natur, Verkehr und Gedränge gehören im 21. Jahrhundert zwangsläufig dazu. Cézannes elterliches Palais Jas de Bouffan lag einst westlich von Aix zwischen Feldern und Weinbergen, heute ist es umgeben von Betonbauten gewöhnlicher Vorortarchitektur.
Genau hier begann meine Wanderung, ich durchquerte das Stadtzentrum und zog weiter über Le Tholonet unter seinen Berg, die Sainte-Victoire. Auf den Bildern Cézannes erscheint das Kalksteinmassiv als wiedererkennbare Form, dabei gleicht keine gemalte Silhouette der anderen. Die Wanderlinie, die ich ablaufen und zeich-nen wollte, sollte etwas Ähnliches ergeben: eine Erinnerung an die Erscheinung des Berges. So entstand die Idee der Doppelbedeutung von topografischer Karte und geologischem Schnitt.
Erst später stieß ich auf Peter Handkes Erzählung „Die Lehre der Sainte-Victoire“.(3) Darin thematisiert er seine persönliche Annäherung an den Berg, an Cézanne, an die Farben. Und er stellt eine Verbindung her zum kleinen Morzger Wald südlich von Salzburg. Dem müsste ich nachgehen, denke ich noch heute.

1 „Als ich nach Marseille fuhr, befand ich mich in Gesellschaft von Monsieur Gilbert. Diese Leute sehen richtig, doch sie haben Professorenaugen. Wenn man im Zug am Landsitz von Alexis vorbeifährt, entfaltet sich gegen Osten ein begeisterndes Motiv: Ste-Victoire und die Felsen, die Beaurecueil überragen. Ich sagte: »Welch ein schönes Motiv.«; er antwortete: »Die Linien sind zu ausgeglichen.«“ -
Paul Cézanne im Brief vom 14.4.1878 an Emile Zola in: „Cézanne Briefe“ - Zürich: Diogenes Verlag AG, 1962, S. 151.
2 Die Association Cézanne hatte 2020 eine Petition ins Netz gestellt, um den Erhalt des freien Blicks vom „Terrain des Peintres“ auf die Sainte-Victoire zu erreichen. Ich unterschrieb.
3 Peter Handke: „Die Lehre der Sainte-Victoire“ Frankfurt/M: Suhrkamp Verlag, 1980.