Matthias Geitel

 

Venedig, Palazzo Pisani - Giardini

 

1 Wanderung, 1 Projektion, 1 Zeichnung
2017


Der Palazzo Pisani war Lebens- und Arbeitsort des in Erfurt geborenen Malers Friedrich Nerly, der sich nach seinem Romaufenthalt 1837 in Venedig niederließ und bis zu seinem Tod im Jahre 1878 die Lagunenstadt vielfach porträtierte. Neben den romantisch verklärten Mondschein-Ansichten der Piazzetta dokumentierte Nerly in Zeichnungen und Gemälden den maroden Zustand der Stadt und es ist schriftlich belegt, dass er sich des fortschreitenden Verfalls und Kulturverlusts bewusst war.

Wo hat Nerly skizziert, durch welche Gassen hat er seine Besucher geführt, welche Plätze hat er geliebt? Briefliche Überlieferungen und die Motive seiner Bilder geben darauf Antwort. Für die Planung meiner Wanderung spielten diese Informationen jedoch eine untergeordnete Rolle. Ich entschied mich, Nerly von seinem Atelier bis in die Giardini vor den 1909 erbauten deutschen Pavillon zu führen, ein imaginierter gemeinsamer Spaziergang durch das heutige Venedig des Massentourismus und zeitgenössischen Kunstbetriebs.

Als Wanderroute entstand am Computer eine mäandernde Linie zwischen dem Palazzo Pisani und den Giardini, maßgeblich bestimmt von der Form der Stadtteile San Marco und Castello und der sie verbindenden Brücken. Der Weg berührt Hotspots des Tourismus wie auch ruhigere Viertel und so zeigen die Fotos ein vielschichtiges Bild der Stadt. Die Wanderlinie nahm schließlich die Gestalt eines venezianischen Brückenbogens an. Eines gelang mir aber nicht: Nerly vor den deutschen Pavillon zu führen. Sicherheitskräfte verwehrten mir den Zugang zum Gelände der Giardini. Die Aufbauarbeiten für die Biennale 2017 hatten bereits begonnen.

 

Piazzetta        

"Die Piazzetta bei Mondschein" (1842) im Katalog "Friedrich Nerly zum 200. Geburtstag"

   
         

 

Venedig (Buchseite aus "TOUR"))

„Menschen können leben, ohne Bilder oder Statuen zu kaufen; aber mit Architektur müssen sich alle in irgend einer Weise befassen; sie müssen Unheil anrichten und ihr Geld verschwenden, wenn sie sie sich nicht nutzbar zu machen wissen.“(1)
John Ruskin

Ich fand meine Freude an dem Gedankenspiel, mit Friedrich Nerly(2) durch Venedig zu spazieren, nein, nicht zu flanieren, sondern ihn auf festgelegtem Weg durch das Venedig des 21. Jahrhunderts zu führen. Natürlich musste ich seinerseits mit Protest rechnen, war er zu Lebzeiten doch dafür bekannt gewesen, seinen Besuchern ein beredter und anekdotenreicher Stadtführer zu sein. Ihm das Heft aus der Hand zu nehmen, zu profitieren von meinem Alltagswissen, das für ihn die reinste Zukunftswissenschaft sein müsste – welch ein Vergnügen in der Vorstellung.
Also malte ich mir das Bild aus. Wir trafen uns vor Nerlys einstigem Domizil im Palazzo Pisani, der heute das Conservatorio Benedetto Marcello beherbergt, schlenderten über den Campo Santo Stefano und tauchten ein in die enge Gassenwelt des Viertels San Marco. Ich hatte einen Google-Wanderplan fabriziert, dessen mit Hand eingezeichneter Route wir dank touristischer und sonstiger Beschilderung recht gut folgen konnten, ganz einfach war es trotzdem nicht. Nerlys Verbesserungsvorschläge, den Weg betreffend, wies ich mit freundlichen Worten zurück und da er nicht insistierte, gab es keinen Anlass für Streit. Meine Erklärungen aus der Zukunft, seine Beschreibungen dessen, was früher wie und wo und vielleicht besser gewesen war – ein schönes Palaver.
Campo Sant’Anzolo, Campiello dei Callegheri (Graffiti!), Calle Vallaresso, die Piazzetta mit dem Dogenpalast(3) – netterweise hatte ich sie nicht ausgespart – Fondamenta degli Arsenalotti usw. Je östlicher wir vorankamen, desto fragwürdiger erschien ihm das Weitergehen. Bis wir endlich am Rand der Giardini(4) vor einem geschlossenen und bewachten Eisentor umkehren mussten, weil die Aufbauarbeiten für die Biennale 2017 bereits im Gange waren. Ärgerlich war das, denn eigentlich hatte ich die Idee gehabt, Nerly vor den Deutschen Pavillon zu führen, um ein wenig über zeitgenössische Kunst zu referieren. Er sollte sich wundern, aber da hatte ich mich verrechnet. Wären wir einen Monat später unterwegs gewesen, dann hätten wir Zeuge einer prämierten Performance(5) werden können, aber dieses Theater- Erlebnis war uns beiden nicht vergönnt.
Was im Gedächtnis haften blieb, war so etwas wie ein venezianischer Brückenbogen, dessen Nachzeichnung wir gemeinsam abgeschritten hatten. Ein bisschen wie die Ponte delle Guglie, meinte Nerly.

1 John Ruskin: „Steine von Venedig“, Zitat aus dem Vorwort von 1851. - Leipzig: Verlag Eugen Diederichs, 1903.
2 Nerly lebte von 1837 bis zu seinem Tod 1878 in Venedig.
3 Die Piazzetta mit dem Dogenpalast im Mondschein war das Motiv, mit dem Nerly sehr bekannt wurde und das er in mindestens 36 Variationen gemalt hat.
4 Eigentlich „Giardino Publico“, wurde 1894 zum Ort für den Bau des Palazzo dell’Esposizione, der seit 1895 zentrales Ausstellungsgebäude der Biennale Venedig ist.
5 Anne Imhof erhielt 2017 den Preis für den besten nationalen Pavillon der Biennale Venedig.